Gratis-Leseprobe aus meinem Buch Szene für Szene die Welt entdecken
Es gibt sie zuhauf. Die berühmten Drehorte, die fernab der bekannten Sehenswürdigkeiten liegen und nichts weiter sind als ganz normale Wohngegenden. Für mich sind diese oft am spannendsten, da sie so unscheinbar wirken. Gleichzeitig sind sie jedoch auch eine große Herausforderung. Nicht, weil die Orte so schwer ausfindig zu machen wären, sondern weil ich mich dort immer ein wenig wie ein Eindringling fühle.
Inmitten von Touristen kann ich ungeniert Fotos machen, in offener Landschaft in Ruhe einen Ort inspizieren. Doch zwischen normalen Wohnhäusern werde ich oft das Gefühl nicht los, fehl am Platze zu sein. Zumal gerade in den USA jegliche verdächtig wirkenden Aktivitäten schnell mal der Polizei gemeldet werden. Und jemand der ohne sofort ersichtlichen Grund Fotos von Häuserfassaden macht, wirkt schon von Natur aus etwas suspekt, verständlich.
In der Vergangenheit hatte ich Glück. Kein Anwohner hat mich je angemotzt oder seinen Hund auf mich gejagt. Private Grundstücke betrete ich wirklich nur, wenn mich jemand dazu einlädt. Häufig wissen die Anwohner aber auch gar nicht, dass um ihr Haus ein bekannter Film gedreht wurde, gerade wenn der Dreh schon Jahrzehnte zurückliegt. So kassiere ich nicht selten fragende Blicke und erkläre, warum ich eigentlich hier bin und was ich mache. Und natürlich weiß man nie, wer oder was einem am nächsten Drehort erwartet.
Daher begleitet mich ein leicht mulmiges Gefühl im Magen, als ich an diesem sonnigen Samstag in einem Vorort von Tampa, Florida, aus dem Auto steige. Kein Mensch ist hier unterwegs, kaum Geräusche zu hören. Die kleine Straße wirkt wie ausgestorben, doch sofort sehe ich mich selbst aus der Perspektive einer Überwachungskamera, mindestens aber kritisch beäugt durch die Fenster der umliegenden Gebäude.
Doch die Freude, hier zu sein, überwiegt. Denn ich stehe inmitten der Locations meines Lieblingsfilms von Tim Burton: „Edward mit den Scherenhänden“.
Hier im Tinsmith Circle im Städtchen Lutz frisierte Johnny Depp als künstlich erschaffener, blasser Edward fleißig Hecken, Hunde und Nachbarn. Und irgendwie passt es ja, dass ich mich hier als Fremde fühle. Nicht anders ging es schließlich der Hauptfigur Edward den kompletten Film über. Das Vertrauen der Nachbarschaft konnte Edward trotz der ganzen Anstrengungen partout nicht gewinnen. Eine Avon-Beraterin, die mich zum Abendessen mit ihrer Familie einlädt, ist, im Gegensatz zum Film, in der Realität weit und breit nicht in Sicht.
Stattdessen habe ich große Mühe, die Drehorte wiederzuerkennen. Die Häuser sind längst nicht mehr pastellig bunt gestrichen und in den 30 Jahren seit dem Dreh sind hohe Bäume gewachsen, so dass es richtige Detektivarbeit ist, die einzelnen Fassaden aus dem Film auszumachen. Zur Zeit der Dreharbeiten waren die Häuser hier gerade neu gebaut worden und eigens für den Film für drei Monate umgestaltet. Wäre der Ort ein Schauspieler, er hätte nur eine große Rolle in seinem Leben gehabt und sich äußerlich so sehr verändert, dass keiner ihn auf der Straße je wiedererkennt.
Die bunte Fantasiewelt, die Burton hier kunstvoll erschaffen hat, habe ich jedoch deutlich vor meinem inneren Auge und in meinem Kopf spielt sich die zauberhaft träumerische Filmmusik von Danny Elfman ab. Als ich gerade das Wohnhaus mit der Hausnummer 1774, in dem der schüchterne Edward im Film zeitweise lebt, genauer in Augenschein nehme, steuert plötzlich ein älterer Mann vom anderen Ende der Straße auf mich zu. Ich kann nicht sagen, ob er heiter oder böse ist, sein Gesicht wirkt neutral. Ich überlege, wie ich ihm möglichst schnell und einleuchtend begreiflich machen kann, weshalb ich hier am Wochenende die Vorstadtidylle störe und eifrig Bilder von Wohnhäusern mache, ohne eine Kriminelle oder Immobilienspekulantin zu sein.
Meine Gedanken kreisen darum, ob er je von Tim Burton, Edward mit den Scherenhänden oder wenigstens Johnny Depp gehört hat. Einen Moment lang befürchte ich, er könnte in der Vergangenheit sogar schon schlechte Erfahrungen mit Filmfans vor seiner Haustür gemacht haben. Vielleicht hat ihm ja jemand eine Ballerina in die Hecke geschnitzt?
Ich denke an das Haus in Albuquerque, das in der Serie „Breaking Bad“ als das Zuhause des Chemielehrers Walter White zu sehen war. Fans hatten dort wiederholt eine Pizza auf das Dach geworfen, eine beliebte Szene, die in der Serie vorkam. Da dies kein Ende nahm, ließ der Besitzer einen Schutzzaun um das Haus errichten. Filmtouristen sind dort also nicht mehr willkommen, da sich einige Leute nicht benehmen konnten.
Während ich mich mental irgendwo zwischen „Was habe ich hier zu suchen?“ und „Wie komme ich hier am schnellsten wieder weg?“ befinde, ist der grauhaarige Mann mit dem Pokerface nun fast bei mir angekommen. Sein Gesicht erinnert mich an das von Gandalf aus „Der Herr der Ringe“, doch statt einem Spitzhut trägt der Mann ein rotes Baseballcap, statt dem Magiermantel ein graues T-Shirt mit ebensograuer Shorts und statt einem Zauberstab hält er ein paar Fotos in der Hand.
Auf einmal macht sich ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht breit und genau im selben Moment löst sich auch meine Anspannung. Mit meinem anfänglichen Gedanken, er sei misstrauisch, was ich hier so treibe, liege ich völlig daneben. Im Gegenteil, er weiß ganz genau, weshalb ich hier bin, noch bevor ich überhaupt ein Wort sage. „Looking for Edward?“, fragt er freundlich und zeigt mir stolz einen ganzen Stapel Fotos, die er selbst vom damaligen Filmset gemacht hat.
Er zeigt mir Fotos von seinem Haus, auf dem die Schweinwerfer montiert wurden, um die fiese Einbruchszene in der Nacht zu drehen, sowie der Sackgasse, in der man das Eingangstor zu Edwards gotischem Schloss errichtete, damals noch ohne die Neubausiedlung, die sich heute dahinter befindet. Dank der Set-Bilder habe ich langsam einen guten Überblick und erkenne noch zwei weitere Häuser, die eine Rolle im Film bekamen. Die kunstvoll geschnittenen Hecken in Elefanten-, Delfin- oder Pinguinform, die auf den gepflegten Rasen thronen, waren nach Angaben des Nachbars nur begrünte Metallgestelle. Das Schloss selbst wurde als Filmset in Dade City, etwa 30 Minuten Autofahrt nordöstlich von Lutz, aufgebaut.
Das letzte Foto zeigt seine Frau zusammen mit Regisseur Tim Burton, der den Drehort selbst ausgewählt und seinem Geburtsort Burbank vorgezogen hat. Als mir ein „Wow!“ herausrutscht, schaut er mich strahlend an.
Unsere Begegnung hat sich nun eindeutig zu einem Win-Win entwickelt: Ich bin froh, jemanden mit Infos aus erster Hand zu treffen, und er scheint äußerst zufrieden, mal wieder mit jemandem über den Film sprechen zu können. Filmtouristen kommen hier nach seiner Einschätzung nur noch selten vorbei. Und wie sich im Laufe unseres Gesprächs herausstellt, sind er und seine Frau jetzt sogar die einzigen Anwohner, die auch schon zur Zeit der Dreharbeiten hier gelebt haben und nicht erst später hergezogen sind.
Ich erfahre, dass der Besitzer des „Edward-Hauses“, in dessen Garten Edward gegen Ende des Filmes seiner Angebeteten Kim (Winona Ryder) eine Engel-Eisskulptur schnitzt, das Geld, das er für den Dreh erhalten hat, gleich damals in ein größeres Haus investiert hat und er schon vor 30 Jahren weggezogen ist. Eine Handvoll anderer Nachbarn, deren Häuser im Film zum Einsatz kamen, konnten mit der Zahlung immerhin einen Teil ihrer Schulden tilgen.
„They were nice people“, sagt der Mann über die Filmleute, die hier für mehrere Wochen die ganze Straße auf den Kopf stellten, während viele der Anwohner in einem nahegelegenen Motel wohnten. Seine Stimme klingt etwas wehmütig. Doch dann verabschiedet er sich plötzlich, da seine Tochter gleich zu Besuch kommt.
Wie schade, denke ich, als ich ihm nachsehe. Denn gerne hätte ich ihn noch gefragt, wie ihm der Film eigentlich selbst gefallen hat, wie oft er ihn gesehen hat und ob Tim Burton später noch einmal zurück zum Drehort kam. Und ich hätte ihm erzählt, wie gerne ich damals, als ich den Film zum ersten Mal sah, selbst gerne in der Straße gewohnt hätte, noch völlig ahnungslos, ob es diese überhaupt in Wirklichkeit gab.
Doch nun stehe wieder alleine da, dank meiner Begegnung mit dem netten Nachbarn den Kopf voll mit Infos und Eindrücken, fast so als wäre ich selbst bei den Dreharbeiten dabei gewesen. Der Rückblick mit den Fotos hat mir den Film erst wieder richtig vergegenwärtigt und ich bin etwas traurig bei dem Gedanken, dass sich hier in der Straße irgendwann keiner mehr an den Dreh oder Film erinnern wird.
Doch irgendein Filmtourist, sage ich mir, wird es den Anwohnern hier dann sicher ausführlich erklären…
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