Regisseur Leander Haußmann hat mit „Herr Lehmann“ ohne Zweifel deutsche Kinogeschichte geschrieben. Die Verfilmung von Sven Regners gleichnamigen Roman gilt unter Kritikern als ein ruhiges Märchen in einer unruhigen Stadt. Während in Ost-Berlin die Revolution vom November 1989 ihren Höhepunkt erreicht, hat Barkeeper Frank Lehmann (Christian Ulmen) im benachbarten West-Berlin ganz andere Sorgen. Sein bester Freund leidet an Depressionen, seine Freundin betrügt ihn und dann kommen auch noch seine Eltern zu Besuch…
Besetzt mit Schauspielern wie Detlev Buck, Katja Danowski, Michael Gwisdek und Uwe-Dag Berlin, ist der Film eine komödiantische Liebeserklärung an die Kreuzberger Kneipenkultur. Ein Teil dieser Kultur – und damit ein Drehort aus „Herr Lehmann“ – stirbt in diesen Tagen aus, denn das „Weltrestaurant Markthalle“ schließt am 27. Juli für immer seine Türen. Zeit für einen letzten Besuch und einen Drehort-Rundgang durch Kreuzberg:
Es ist ein lauer Sommerabend, 18:30 Uhr, an einem Freitag. Mit viel Vorfreude auf einen heißen Schweinebraten, wie ihn Herr Lehmann hier einst um 11 Uhr bestellte, betrete ich das Weltrestaurant Markthalle in der Pücklerstraße 34. Im Lokal ist schon einiges los, denn ganz verschiedene Personengruppen treffen sich hier täglich zum Abendessen. Das Publikum ist eine bunte Mischung aus Touristen, Gourmets und Berliner Szene. Dies verdanken die Gastronomen zum großen Teil natürlich auch „Herr Lehmann“, dessen Foto bis heute in der Markthalle hinter dem Tresen hängt.
Für die Dreharbeiten ließ Leander Haußmann das Lokal allerdings im Studio nachbauen, weil der damalige Betreiber einen Dreh im Restaurant ablehnte. Im Film stellt es die Kneipe von Karl (Detlev Buck) dar und Herr Lehmann lernt dort bei einem Streitgespräch über Schweinebratenkruste die junge Köchin Katrin (Katja Danowski) kennen. Der Tisch aus dem Film steht auch in der „echten“ Markthallen-Kneipe. Er wurde aber erst dort platziert, nachdem der Film ein Erfolg wurde und die Leute immer öfter danach fragten. Ich nehme Platz an jenem Tisch und genieße zum letzten Mal den grandiosen Braten und das einzigartige Flair dieser Location.
Zu Fuß schleiche ich weiter durch Kreuzberg. An der Ecke Wrangelstraße / Eisenbahnstraße erkenne ich einen weiteren Drehort. Hier taumelte Herr Lehmann müde nach Hause, bis er von einem Hund aufgehalten wurde und diesen mit Whiskey handzahm machte. Von dem tristen und graffitireichen Kreuzberg aus dem Film ist allerdings nicht mehr viel übrig. Die Fassaden der Häuser sind in heiteren Farben gestrichen worden, Kreuzberg wirkt heute jung und familienfreundlich.
Ich entscheide mich für eine Abkürzung über den Lausitzer Platz und bin innerhalb von fünf Minuten in der Wiener Straße. Hier befindet sich im Haus Nr. 22 die Madonna Bar. Dieser kleine, verwinkelte Laden hat einfach Charme und obwohl es die wenigsten wissen, hat dieser Ort eine Menge mit der Geschichte Herr Lehmanns zu tun. Zwar wurde hier keine Szene des Filmes gedreht, aber in Sven Regners Romanvorlage ist eben diese Madonna Bar die Kneipe, in der Herr Lehmann arbeitet.
„Vor den Dreharbeiten war Leander Haußmann hier und hat sich den Laden angesehen. Allerdings war die Kneipe für die ganze Kameratechnik zu klein. Darum wurde aus dem Deal leider nichts und man hat alles im Studio nachgebaut“, erzählt der Eigentümer der Bar während er mir ein köstliches Kindl zapft. Für die Dreharbeiten kopierte man die besagte Kneipe in die „Berliner Straße“ auf dem Gelände des Studio Babelsberg. Diese Außenkulisse wurde vier Jahre zuvor für Leander Haußmanns Film „Sonnenallee“ errichtet, mittlerweile jedoch durch die „Neue Berliner Straße“, in der die Serie „Babylon Berlin“ gedreht wurde, ersetzt.
Keine 500 Meter von der Madonna Bar entfernt stoße ich auf die Skalitzer Straße, welche unter der U-Bahn-Trasse verläuft. Im Film ist diese in jener Szene zu sehen, in der Herr Lehmann verheult durch die Nacht wandert, weil seine Freundin ihn mit „Fanta-Reiner“ betrogen hat…
Dass sie das getan hat, erfährt er bei einem Streitgespräch im Döner-Imbiss „Misir Carsisi“, direkt am U-Bahnhof Kottbusser Tor, welcher sich seit den Dreharbeiten kaum verändert hat. Heute steht hier ein junger Koch namens Halil hinter dem Tresen. Er selbst kennt den Film nicht, wird aber mindestens zweimal pro Woche auf „Herr Lehmann“ angesprochen. „Sogar die Busse der Stadtrundfahrten fahren hier manchmal vorbei und zeigen auf den Laden. Es ist ziemlich verrückt“, erzählt mir Halil, der gerade eine türkische Süßspeise zubereitet. Diese genieße ich selbstverständlich auf dem Platz, auf dem auch Herr Lehmann im Film saß: direkt am Fenster, mit Blick auf die Skalitzer Straße.
Über die Gitschiner Straße erreiche ich innerhalb von fünfzehn Minuten das Kreuzberger „Prinzenbad“. Das sehr steril gehaltene Freibad ist Arthouse-Fans bereits aus der preisgekrönten Dokumentation „Prinzessinnenbad“ bekannt, welche Regisseurin Bettina Blümner zum Teil hier drehte. Herr Lehmann besucht das Bad nach einer langen, schlaflosen Kneipennacht. Zum Schwimmen kommt er allerdings nicht, weil er am Kiosk seine Freunde Erwin, Karl und Jürgen trifft, welchen er ein Bier spendiert.
Über die Baerwaldbrücke überquere ich den Landwehrkanal, an dessen Südufer wir schon von Weitem das „Vivantes Klinikum Am Urban“ sehen. Das Krankenhaus spiegelt den typischen Großstadtbaustil der 70er Jahre wieder und ist optisch alles andere als ein Highlight. Dennoch oder gerade deswegen passt es perfekt zu den Aufnahmen, in denen Herr Lehmann bei Nacht vor dem Krankhaus steht und die Sterne beobachtet, nachdem er gerade seinen Freund Karl beim Chefarzt (Christoph Waltz) in der Notaufnahme abgegeben hat. Die wie ein Stillleben wirkende Szene dient als letztes, tiefes Luftholen vor dem großen Filmfinale.
Mit schweren Füßen gehe ich quer über den Heinrichplatz und steuere auf den Eingang der Kneipe „Zum Elefanten“ zu. Das Traditionshaus gibt es laut der Legende „schon länger als Kreuzberg“, verrät mir ein Gast am Tresen. Der Schankwirt Walter Wolf war seit 1977 hier der Chef am Tresen und gilt schon lange als Berliner Original. Sogar im Film „Herr Lehmann“ steht er am Zapfhahn. „Einen anderen Mann hinter dem Tresen hätten die Ur-Berliner auch nicht akzeptiert. Dass wussten wohl auch die Leute vom Film“, fährt der Gast fort.
Seit 2011 ist „Elefanten-Walter“ nun in Rente und hat das Lokal abgegeben. Ich setze mich an den Tresen und bestelle mir ein kaltes Bier vom Fass. Zum dritten Mal sitze ich heute auf einem Stuhl, auf dem auch Herr Lehmann saß. Im Film trinkt er hier insgesamt acht Bier und erfährt von einer Dame neben ihm, dass die Mauer offen ist. Filmzitat: „Das sollte man sich vielleicht mal ansehen.“ Nach Sonnenuntergang verlasse ich den „Elefanten“ und begebe mich langsam zur U-Bahn. Kreuzberger Nächte sind bekanntlich lang und wenn ich mir die gut gefüllten Restaurants und Kneipen so ansehe, ist da etwas Wahres dran.
Noch einmal gehe ich wehmütig am „Weltrestaurant Markthalle“ vorbei, in dem fast alle Tische besetzt sind. In ein paar Tagen werden hier die letzten Biere gezapft, der letzte Schweinebraten serviert und die Türen geschlossen. Die Kapitulation der Eigentümer gegenüber den steigenden Mietpreisen lässt nun ein weiteres Berliner Original aussterben. Als wäre dies nicht schon traurig genug, setzt genau in dieser Sekunde ein lauer Sommerregen über Kreuzberg ein und ich frage mich, was wohl Herr Lehmann dazu sagen würde. Wahrscheinlich würde er sein Bier nehmen und das tun, was einem in dieser Situation eben noch übrigbleibt: „Erstmal austrinken!“
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